Homöopathie und Rationalität
Medizin zwischen Empathie und Objektivismus

Das Programm Galileis alles zu messen, was messbar ist, und messbar zu machen, was noch nicht messbar ist, hat in den letzten zwei Jahrhunderten die Medizin in einer Weise und in einem Ausmaß transformiert, dass heute weltweit unter wissenschaftlicher Medizin wie selbstverständlich Quantifizierbarkeit, Reproduzierbarkeit und Standardisierbarkeit verstanden wird. Was sich nicht objektivieren, das heißt maschinell erfassen, verarbeiten und auswerten lässt, wird von der modernen evidenzbasierten Mainstream-Medizin nicht wirklich wahrgenommen, geschweige denn behandelt. Trotz ihrer Erfolge und Unentbehrlichkeit bei bestimmten Indikationen fühlen sich dabei aber immer mehr Patienten unverstanden und übergangen und suchen ihr Heil in alternativen Therapiemethoden.

Wenn Menschen aber mehr sind als die Summe ihrer Messwerte und über je eigene subjektive, seelisch-geistige Dimensionen verfügen, zeigt sich beim Versuch ihrer wissenschaftlichen Erfassung das Ungenügen einer bloß naturwissenschaftlich ausgerichteten Rationalität. Empfindungen, Leiden und Sehnsüchte eines Menschen lassen sich nicht durch Maschinen, sondern nur von mitempfindenden, mitleidenden und mitsehnenden Menschen wahrnehmen und innerhalb des jeweiligen Lebenskontextes und Sinnzusammenhangs verstehen und bewerten. Die dazu erforderliche Empathie erweist sich in der Medizin als notwendige und unerlässliche Bedingung einer ganzheitlichen Anamnese, wenngleich sie allein noch keine wirksame Therapie garantiert. Statt ganz in seinem Mitgefühl aufzugehen, muss der Therapeut stets auch eine gewisse Distanz zum Patienten wahren, um gezielt und rational entscheiden und Hilfe leisten zu können.

Im Gegensatz zur konventionellen Medizin wie auch zur Psychologie und Psychosomatik ist die Homöopathie in der privilegierten Situation, in ihrer Theorie beide Aspekte abzudecken. Hahnemanns rationale Methodik einer experimentellen Pharamakotherapie und seine Anweisungen an den ärztlichen Beobachter zur vorutreilsfreien und empathischen hermeneutisch-phänomenologischen Erfassung des individuellen Patienten einschließlich seiner gesundheitlichen Entwicklung sind gleichermaßen bestimmend für die homöopathische Heilkunst. In der Positionierung gegenüber normativen Geltungsansprüchen der prädominanten studien-, statistik- und ökonomiebasierten Schulmedizin täten Homöopathen gut daran, diese ihre methodische Stärke wirkungsvoller zu vertreten.

(Wissenschaftliche Gesellschaft für Homöopathie, WissHom, 2013)